
Heute gibt des die erste Folge zur Reihe „Frauenportraits in den Evangelien“.
Den Auftakt macht eine namenlose Frau aus Syrophönizien, die von Julia K. Brüß gesprochen wird.
Die Textgrundlage Mk 7,24–30
(EÜ 2016)
24 Jesus brach auf und zog von dort in das Gebiet von Tyrus. Er ging in ein Haus, wollte aber, dass niemand davon erfuhr; doch es konnte nicht verborgen bleiben.
25 Eine Frau, deren Tochter von einem unreinen Geist besessen war, hörte von ihm; sie kam sogleich herbei und fiel ihm zu Füßen.
26 Die Frau, von Geburt Syrophönizierin, war eine Heidin. Sie bat ihn, aus ihrer Tochter den Dämon auszutreiben.
27 Da sagte er zu ihr: Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen.
28 Sie erwiderte ihm: Herr! Aber auch die kleinen Hunde unter dem Tisch essen von den Brotkrumen der Kinder.
29 Er antwortete ihr: Weil du das gesagt hast, sage ich dir: Geh nach Hause, der Dämon hat deine Tochter verlassen!
30 Und als sie nach Hause kam, fand sie das Kind auf dem Bett liegen und sah, dass der Dämon es verlassen hatte.

»Ich bin eine Griechin syrophönizischer Abstammung und stamme aus der Gegend von Tyros.
Von dem Mann, den ihr als ältesten Evangelisten kennt, werde ich auf mehreren Ebenen als Nichtjüdin charakterisiert. Dadurch, dass ich so deutlich als Fremde gekennzeichnet bin, ergibt sich ein Nachteil für mich. Und genau dieser Nachteil ist es, der in der Erzählung um mich eine wesentliche Rolle spielt.
Als ich davon erfahre, dass er sich in unserem Gebiet aufhält, muss ich ihn aufsuchen. Dafür überwinde ich gezogene Grenzen, verlasse mein Haus und den mir zugewiesenen Handlungsraum, trete in die Öffentlichkeit, gehe in das Haus, in dem er sich aufhält, und nähere mich ihm mit meinem Anliegen. Zu seinen Füßen bitte ich ihn, dass er meine kranke Tochter heilen möge, von der ein Dämon Besitz ergriffen hat. Ich glaube fest daran, dass er ihr helfen kann. So vielen anderen hat er schon geholfen … Ich setze all meine Erwartungen in ihn. Was ich jedoch nicht erwartet habe, ist, dass ich mich, um mein Ziel zu erreichen, selbst so erniedrigen lassen muss.
Warum weist er meine Bitte so entschieden zurück? Warum verhält er sich so ablehnend und wählt diese Worte? Kann er nicht anders herausstellen, dass er sein Heilswirken zuerst allein auf Israel – in der Bildwelt seiner Antwort auf die Kinder – begrenzt sieht? Warum wählt er für meine Tochter die Rolle eines kleinen Hundes? Warum wählt er dieses demütigende Bild? Und ja, es ist demütigend, denn seine Redeweise weist uns entschieden die Position zu, dass wir unreinen Hunden gleichen! Hat ausgerechnet er etwa keine Vorstellung davon, was so etwas mit Menschen macht? Oder interessiert er sich gar nicht für uns syrophönizische Hündchen, die seiner Ansicht nach in Opposition zu den jüdischen Kindern stehen? Nach ihm würden die Kinder Israels hungern, wenn man den nichtjüdischen Hunden ihr Brot vorwerfen würde. Ist denn nicht genug Brot für alle da …? Auch, wenn er für uns das Heil nicht prinzipiell ausschließt, so sind wir noch nicht an der Reihe. Geht denn aber nicht genug Heilung von diesem Menschen aus?
Ich liege immer noch vor ihm zu Füßen und stelle mir all diese Fragen. Frage mich, warum er ausgerechnet mich so ablehnt, wo ich doch von so vielen bessergelingenden Beziehungen zwischen ihm und anderen Frauen gehört habe. Aber ich bin die fremde Frau, die Syrophönizierin.
Plötzlich merke ich, dass ich mich selbst vor ihm in der entehrenden Rolle einer Hündin befinde. Kann das sein? Darf das sein? Nein! Ich bin keine hündische Speichelleckerin! Ich kann mich nicht so abspeisen lassen. Auch nicht von ihm. Es steht zu viel auf dem Spiel …
Und so stehe ich auf und erhebe meine Stimme. Ich bin bereit zu streiten. Ich argumentiere, indem ich das von ihm gewählte Bild geschickt aufgreife. Auch, wenn seine Antwort auf meine Bitte alles andere als leicht zu verdauen ist, bleibe ich nicht stumm, sondern reagiere schlagfertig. Was ich in diesem Moment fühle? Wut?
Empörung?
Angst um meine Tochter?
Ich weiß es nicht. Vielleicht ist da von allem ein bisschen.
Auch wenn ich aufgewühlt bin, werte ich ihn in meiner Antwort nicht ab. Ich erweise ihm den Respekt, den ich nicht erhalte.
Innerhalb der von ihm gewählten Bildwelt entwerfe ich ein alternatives Szenario. Ich verändere seine Reihenfolge von zuerst und später: Für die Hunde fällt eben doch etwas ab, auch wenn am Tisch noch gegessen wird. Auch führe ich eine neue Raumachse von oben und unten ein. Ja, ich ordne uns damit unter, aber mir gelingt dadurch, seine Rede zu entkräften. Und …: Die Heilung meiner Tochter.
Ja, weil ich so spreche, wird meine Tochter gesund. Er räumt es selbst ein, dass es mein Argument ist, das ihre Heilung bewirkt hat. Meine Antwort war ein Heilwort.
Ob er von mir dazugelernt hat? Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß ist, dass ich durch meine Worte rechtbehalten habe: Heil für uns bedeutet nicht eine Minderung des Heils für sein Volk. Es ist genug für alle da! Meine Tochter ist gesund, allerdings um den Preis, dass ich für sie wie auch für mich selbst die Rolle von Hunden unter dem Tisch angenommen habe.
Geht die Erzählung um mich damit nicht aber doch ganz auf meine Kosten?
Nein, nicht ganz …
Ja, ich muss mich selbst als Hündin marginalisieren, um Rettung und Heil für mein Kind zu erlangen.
Und ja, ihm, den ich gebeten habe, ist hier bei Tyros nichts Sympathisches abzugewinnen.
Als syrophönizische Frau und damit als Angehörige einer nicht-jüdischen Kultur bin ich seinem Volk gegenüber nicht gleichberechtigt. Es entsteht keine Form der direkten Gemeinschaft.
Ich gehe nach Hause … zu meinem gesunden Kind.
Und genau hier hat der Evangelist in der Erzählung um mich bedeutsam variiert. In einem einzigen Vers bringt er die von seinem Protagonisten entworfenen Rollenzuschreibungen durcheinander. Zuhause finde ich meine gesunde Tochter, aber jetzt wird dieser bisher stets für sie verwendete Begriff gerade nicht mehr verwendet. Ich finde mein Kind. Im Text, in dem ich begegne, hat die Erzählstimme das letzte Wort. Gegen seine Stimme, ja sogar auf seine Kosten, legt sie fest, dass wir eben keine Hunde sind, die unterwürfig Heilskrümel erbetteln, sondern mit vollem Recht Kinder sind und damit zumindest einen nahezu gleichen Status haben wie die jüdischen Kinder.
Dafür stehe ich – ich, eine Frau aus den Evangelien.«
© Volker Niggemeier

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Bibliographie (in Auswahl):
Reinhard Feldmeier: Die Syrophönizierin (Mk 7,24–30) – Jesu „verlorenes“ Streitgespräch, in: Ders. / Ulrich Heckel (Hrsg.):
Die Heiden. Juden, Christen und das Problem des Fremden (WUNT 70), Tübingen 1994, 211–227.
Rupert Feneberg: Der Jude Jesus und die Heiden. Biographie und Theologie Jesu im Markusevangelium (HBS 24), Freiburg i. Br. u. a. 2000.
Christine Gerber: Es ist genug für alle da! (Die Heilung der Tochter der Syrophönizierin) Mk 7,24–30, in: Ruben Zimmermann (Hrsg.): Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 313–322.
Gudrun Guttenberger: Ethnizität im Markusevangelium, in: Petra von Gemünden / David G. Horrell / Max Küchler (Hrsg.): Jesus – Gestalt und Gestaltungen. Rezeption des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft (NTOA/StUNT 100), Göttingen 2013, 125–152.
Carsten Jochum-Bortfeld: Die Verachteten stehen auf. Widersprüche und Gegenentwürfe des Markusevangeliums zu den Menschenbildern seiner Zeit (BWANT 178), Stuttgart 2008.
Markus Lau: Speichellecker? Von tyrischen Hunden, jüdischen Kindern, einer klugen Frau und einem lernenden Jesus. Beobachtungen zu einer irritierenden markinischen Perikope (Mk 7,24–30), in: Ders. / Karl Matthias Schmidt / Thomas Schuhmacher (Hrsg.): Sprachbilder und Bildsprache. Studien zur Kontextualisierung biblischer Texte (FS M. Küchler) (NTOA/StUNT 121), Göttingen 2019, 373–404.
Susan E. Miller: Women Charcters in Mark’s Gospel, in: Christopher W. Skinner / Matthew Ryan Hauge (Hrsg.): Character Studies and the Gospel of Mark (LNTS 483), London 2014, 174–193.
Uta Poplutz: Das Heil an den Rändern Israels (Die kanaanäische Frau) Mt 15,21–28, in: Ruben Zimmermann (Hrsg.): Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 465–473.
Rainer Schwindt: Vom Ort zum Raum. Exegetische und systematische Überlegungen zur Geschichte von Jesus und der Syrophönizierin,
in: MThZ 60 (2009) 62–75.
Sonja Strube: »Wegen dieses Wortes«. Was feministische von nicht-feministischer Exegese unterscheidet. Einblick in die Untersuchung
der exegetischen Sekundärliteratur zur Erzählung von der syrophönizischen Frau (Mk 7,24–30), in: Andreas Leinhäupl-Wilke / Stefan Lücking / Jesaja Michael Wiegard (Hrsg.): Visionen des Anfangs (BibFor Jahrbuch 2), München 2004, 203–218.
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