
In der zweiten Folge leiht Marie Schnieders der Tochter der Herodias ihre Stimme.
Die Textgrundlage Mk 6,14-29
(EÜ 2016)
14 Der König Herodes hörte von Jesus; denn sein Name war bekannt geworden und man sagte: Johannes der Täufer ist von den Toten auferstanden; deshalb wirken solche Kräfte in ihm.
15 Andere sagten: Er ist Elija. Wieder andere: Er ist ein Prophet, wie einer von den alten Propheten.
16 Als aber Herodes von ihm hörte, sagte er: Johannes, den ich enthaupten ließ, ist auferstanden.
17 Herodes hatte nämlich Johannes festnehmen und ins Gefängnis werfen lassen. Schuld daran war Herodias, die Frau seines Bruders Philippus, die er geheiratet hatte.
18 Denn Johannes hatte zu Herodes gesagt: Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders zur Frau zu haben.
19 Herodias verzieh ihm das nicht und wollte ihn töten lassen. Sie konnte es aber nicht durchsetzen,
20 denn Herodes fürchtete sich vor Johannes, weil er wusste, dass dieser ein gerechter und heiliger Mann war. Darum schützte er ihn. Wenn er ihm zuhörte, geriet er in große Verlegenheit und doch hörte er ihm gern zu.
21 Eines Tages ergab sich für Herodias eine günstige Gelegenheit. An seinem Geburtstag lud Herodes seine Hofbeamten und Offiziere zusammen mit den vornehmsten Bürgern von Galiläa zu einem Festmahl ein.
22 Da kam die Tochter der Herodias und tanzte und sie gefiel dem Herodes und seinen Gästen so sehr, dass der König zu dem Mädchen sagte: Verlange von mir, was du willst; ich werde es dir geben.
23 Er schwor ihr sogar: Was du auch von mir verlangst, ich will es dir geben, und wenn es die Hälfte meines Reiches wäre.
24 Sie ging hinaus und fragte ihre Mutter: Was soll ich verlangen? Herodias antwortete: Den Kopf Johannes’ des Täufers.
25 Da lief das Mädchen zum König hinein und verlangte: Ich will, dass du mir sofort auf einer Schale den Kopf Johannes’ des Täufers bringen lässt.
26 Da wurde der König sehr traurig, aber wegen der Eide und der Gäste wollte er ihren Wunsch nicht ablehnen.
27 Deshalb befahl er einem Scharfrichter, sofort ins Gefängnis zu gehen und den Kopf des Täufers herzubringen. Der Scharfrichter ging und enthauptete Johannes.
28 Dann brachte er den Kopf auf einer Schale, gab ihn dem Mädchen und das Mädchen gab ihn seiner Mutter.
29 Als die Jünger des Johannes das hörten, kamen sie, holten seinen Leichnam und legten ihn in ein Grab.

»Als ich auf der Geburtstagsfeier des Mannes meiner Mutter tanzte, ahnte ich nicht, welche Folgen das für mich haben würde.
Weitreichende Folgen. An diesem einen Tag geriet alles in eine Schieflage …
Ihr kennt mich als Salome, obwohl mein Name im ältesten Evangelientext gar nicht genannt wird.
Hier werde ich über meine Mutter vorgestellt. Ich bin die Tochter der Herodias, mit der ich später und durch die Jahrhunderte hindurch sogar zu einer Figur verschmelzen soll. Ob Herodes Antipas mein Vater oder mein Stiefvater ist, lässt der Evangelist offen, anders als der große jüdische Geschichtsschreiber in seinen Altertümern, von dem ihr auch meinen Namen übernommen habt.
Die Geschichte, in der ich begegne, ist eine, an der sich zeigen lässt, welche Wirkmacht die Interpretation eines Textes – dem möglicherweise Hofklatsch zugrundeliegt – entfalten kann.
Was aus mir geworden ist?
Weit mehr als die anonyme Figur in einer tragischen Erzählung.
Weit mehr als Teil einer Dreieckskonstellation innerhalb der Erzählung um den Tod des Täufers.
Dabei hält der Text so wenig zu mir fest: Lediglich durch drei Handlungen, eine Frage an meine Mutter und eine Aussage – meinen Wunsch – trete ich in Erscheinung.
Ganz egal, zu welchen der anderen Personen im Text ich jeweils zugeordnet werde –
ganz egal, wie sehr das Motivrepertoire um mich herum auch variiert –
es ist seit jeher mein Tanz, der im Vordergrund steht.
Dieser kleine Teil eines ausgelassenen Festmahls,
dieser kleine Teil im Text, der lediglich als Fakt genannt wird.
Ja, ich habe für den Mann meiner Mutter getanzt.
Jetzt überlegt ihr sicher auch – genau wie so viele vor euch – ob das etwas Ungewöhnliches ist, oder?
Ob ich aus eigenem Antrieb oder auf Zutun meiner Mutter tanzte?
Diese Frage lässt der Text offen. Eine von vielen Leerstellen. Leerstellen, die in Bezug auf meine Person ausladend gefüllt worden sind …
Ob ich mit sieben Schleiern getanzt habe? Nein.
Das entspricht eurer Fantasie, auch wenn diese Annahme verbreitet ist. Ihr lenkt damit eure Vorstellungen auf das, was ihr als orientalisch wissen wollt.
Oder ihr kennt Oscar Wildes „Salome“ aus dem Theater, der mich in den Farben der erotisch tanzenden Schönheit kleidet, die einem Mann berechnend den Kopf verdreht. Ihn zu ungewollten Handlungen verführt …
Darf ein erotischer Nebenklang mitgehört werden, weil mein Tanz schließlich gefällt …? Vermutlich ist auch das eine Produkt ausschweifender Männerfantasien.
Der Tetrarch jedenfalls versprach mir die Erfüllung eines Wunsches.
Bis zur Hälfte seines Königtums durfte ich mir etwas wünschen, von dem ich noch gar nicht wusste, was es sein sollte.
Durch sein Versprechen hat er sich in eine Zwangslage gebracht, aber der Tod hielt schon vor meinem Tanz Einzug in das Fest.
Wie dem auch sei: der „Tanz der Salome“ – mein Tanz? – dient seit jeher als Negativbeispiel für das lasterhafte Verhalten einer jungen Frau, das dem Tod bringt.
Er führte zuletzt auch dazu, dass man meinen eigenen Tod legendarisch ausgemalt hat: Ich soll auf dem gefrorenen See Genezareth getanzt haben, bis ich darin einbrach. Die spitzen Kanten des gebrochenen Eises sollen mich enthauptet haben …
Ihr fragt noch nach dem Motiv, das in der Betörung des Mannes meiner Mutter gelegen und zum Tod des Wüstenpredigers geführt haben soll? Eine unglückliche, einseitige Liebe, die vom Umkehrtäufer nicht erwidert worden ist!
Das ist die vorherrschende Deutung, denn auf diese Art und Weise begegne ich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bei mehr als 60 Autoren, in 28 Musikstücken und in über hundert Darstellungen der bildenden Kunst.
Aus mir, der einen Tochter der Herodias, wurden viele Salomes:
- Das fremdgesteuerte Kind, das Instrument ihrer grausamen Mutter ist …
- Die triumphierende Frau, die den Kopf des Täufers auf einer Fleischplatte wie eine Trophäe hält …
- Das Mädchen, das angewidert vom Kopf des Täufers den Blick abwendet …
- Die lasterhafte Frau, vor der es zu warnen gilt, weil sie sie mit ihrem Tanz sämtliche Huren in den Schatten stellt …
- Die, die mit dem Teufel im Bunde steht, und die im Mittelalter zur Hexe diffamiert wurde …
- Der männermordende Vamp, die femme fatale – eine verkommene Muse und Sinnbild weiblicher Grausamkeit …
- Die, die gelegentlich sogar in pornographischen Kontexten begegnet – als Personifizierung von Lust und Tod …
Wer bin ich eigentlich? Repräsentantin einer unergründlichen Weiblichkeit? Reflexionsmoment der ästhetischen Stimmung einer jeweiligen Rezeption? Ich weiß es selbst nicht mehr … Zu vieles wurde aus mir gemacht und erdacht.
Wenn ich in den Text schaue, weiß ich allerdings, dass ich eins ganz sicher bin: Ich bin die Tochter der Herodias.«
© Volker Niggemeier

Bilder: pixabay.com; pexels.com - bearbeitet von V. Niggemeier
Bibliographie (in Auswahl):
Janice C. Anderson: Feminist Criticism: The Dancing Daughter, in: Dies/Stephen D. Moore (Hrsg.): Mark & Method. New Approaches in Biblical Studies, Minneapolis 22008, 111–143.
Alica Bach: Calling the Shots: Directing Salomes Dance of Death, in: Semeia 74 (1996) 103–126.
Barbara Baert: The Dancing Daughter and the Head of John the Baptist (Mark 6:14–29) revisted. An interdisciplinary approach, in: LouvSt 38 (2014), 5–29.
Eva Maria Fischer: Salome – Femme fatale des Neuen Testaments? Ein Streifzug durch die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, in: Johannes Frühwald-König/Ferdinand R. Prostmeier / Reinhold Zwick (Hrsg.): Steht nicht geschrieben? Studien zur Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte (FS G. Schmuttermeyr), Regensburg 2001, 383–401.
Camille Focant: La tête du prophète sur un plat, ou, L’antirepas d’alliance (Mc 6.14–29), in: NTS 46 (2001) 334–353.
Michael Hartmann: Der Tod Johannes’ des Täufers. Eine exegetische und rezeptionsgeschichtliche Studie auf dem Hintergrund narrativer, intertextueller und kulturanthropologischer Zugänge (SBB 45), Stuttgart 2001 [darin auf den S. 162–168 zum Tanz des Mädchens in Mk 6,22].
Regina Janes: Why the Daughter of Herodias Must Dance (Mark 6.14–29), in: JSNT 28 (2006) 443–467.
Ross S. Kraemer: Implicating Herodias and Her Daughter in the Death of John the Baptizer: A (Christian) Theological Strategy?, in: JBL 125 (2006) 321–349.
Susanne Luther: Art. Salome, in: WiBiLex (2010), on,ine unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/53939/ (07.10.2022).
Peter-Ben Smit: Eine neutestamentliche Gburtstagsfeier und die Charakterisierung des „Königs“ Herodes Antipas (Mk 6,21–29), in: BZ NF 53 (2009) 29–46.
Abraham Smith: Tyranny Exposed: Mark’s Typological Charakterization of Herod Antpias (Mark 6:14 – 29), in: Biblical Interpretation 14 (2006), 259–293.
Sandra Walz: Tänzerin um das Haupt. Eine Untersuchung zum Mythos „Salome“ und dessen Rezeption durch die europäische Literatur und Kunst des Fin de siècle (Forum Europäische Literatur 18), München 2008.
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